120 Pistenkilometer
Ein langer Tag mit 20.000 Höhenmetern
Es ist kein optimaler Tag, möchte man meinen, als ich an jenem 4. April 2017 in Zermatt das Chalet Echo verlasse und mit dem Bus an die Matterhornbahn fahre. Zwar ist der Himmel strahlend blau und es ist kühl, aber das wird sich im Laufe des Tages ändern. Zuerst wandeln sich die harten Pisten zu Sulzschnee, dann lässt die Sicht am späten Nachmittag sporadisch nach und die letzte Abfahrt des Tages wird von leichtem Schneefall begleitet. Wieder nehme ich wegen der Länge von 8,8 km dazu die Staffelalp als «Absacker» unter die Bretter. Doch bereits vor diesem großartigen Abschluss ist klar, dass die 100 km Marke geknackt ist. Dass ich die Folgen eines Sturzes mit mir herumtrage, der mich auf der ersten Abfahrt am zweiten Tag hingestreckt hat, spüre ich jetzt nicht. Ganz im Gegenteil: Am Vortag hatten mich meine Kinder bis zur Erschöpfung durch den Neuschnee gejagt. Heute Abend werde ich dagegen entspannt und erholt im Ort abschnallen! Der Satz meines Sohnes ist scheinbar völlig richtig: «Der Bogen, den Du nicht fährst, kostet auch keine Kraft.»
Ich hatte am Furggsattel noch einmal «locker leicht» im frischen Neuschnee Spuren ziehen wollen. Die Bindung hatte ich im Urlaub zuvor auf den Anfängerwert von 6,5 eingestellt, etwas unterhalb des vom Verkäufer errechneten Wertes. Zwar löst sie auch diesmal nach einem Fahrfehler auf beiden Schuhen zuverlässig aus, aber einer der Ski gerät zwischen Bein und Piste, zerschneidet die neue Hose und die Haut in meiner Kniekehle. Es blutet, aber das Blut läuft offensichtlich nicht in den Skischuh. Ein Pflasterzoo am Abend muss reichen. Auf allen Abfahrten spüre ich fortan den Zug auf der Wunde. Eine Woche lang, wie auch heute, zwinge ich mich dazu, den Talski in Rechtskurven in den Schnee zu pressen, erst drei Wochen später werde ich den Schaden am Bein dokumentieren.
Anlässlich von Zermatt Unplugged ist das Worn Wear Mobil von Patagonia für drei Tage im Ort. Meine Frau nutzt die Gelegenheit und gibt die Hose zur Reparatur ab, die kostenlos aber nicht umsonst ist. Ein kleines Logo wird an anderer Stelle abgetrennt und überdeckt die der größten Beschädigung. Wer das nicht weiß, sieht, anders als am Bein, gar keine Sturzfolgen. Werbung in seiner allerbesten Form!
Aber zurück zu diesem denkwürdigen Tag: Das Verhältnis von Lift- zu Pistenkilometern ist in Zermatt extrem. Besonders «krass» zeigt es sich auf der Großen Acht. So nennen mein Sohn und ich seit diesem Tag die Runde Gant-Blauherd-Rothorn (2,1 km) - Abfahrt Fluhalp zum Gant (5,0 km via Restaurant und ohne Moräne) - Gant-Hohtälli (2,8 km) - Abfahrt Hohtälli-Kelle1-Grünsee-Gant (6,8 km). Hier stehen 5 km Aufstieg 12 km Abfahrt gegenüber, da man die Zufahrt vom neuen Hublot-Express zur Rothornbahn den Pistenkilometern zuschlagen muss.
Entscheidend für diesen Tag werden zwei Faktoren:
- Die Woche vor den Osterferien ist außergewöhnlich ruhig, frei von verkleideten Brexittern, Eiertänzern und Wartezeiten an Luftseilbahnen.
- Ich habe gelernt, im Sulzschnee Schuss zu fahren.
Zusammen mit der Talabfahrt an der Sunnegga, den Pisten am Furggsattel und denen an Gifthittli entfaltet sich fast ein kompletter Liftplan vor dem Betrachter. Nur Skirouten lasse ich auf dieser Reise aus. Der Lohn ist eine Tagesleistung von 120 Pistenkilometern3, verteilt auf 20.000 Höhenmeter. Höchstgeschwindigkeit: 90 km/h, durchschnittliche Pistenlänge (ohne Kurzstrecken): 4440 m.
Ich fahre HEAD Supershape I Speed, die ich mir zu Saisonbeginn hatte aufschwatzen lassen, wo ich doch eher der Magnum-Typ bin. Das lag aber an meiner Unentschlossenheit und nicht an dem Verkäufer bei SPORTPARTNER, Bonn, der orakelte: «Diese Ski wollen gefahren werden!» Heute weiß ich, was er damals meinte. Volle 20 Skitage brauche ich, um mich mit ihnen anzufreunden. Und dann dieser eine Tag: So sieht Versöhnung mit der eigenen Fehlentscheidung aus!
2 Mein Sohn braucht unter sonst gleichen Umständen auf einer 300 m kürzeren Variante der Abfahrt Riffelberg-Furri nur 4:02, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 55 km/h entspricht. Auch hier sind wieder die alten Head XRC 1200i im Einsatz, die ich liebevoll pflege.
3 Dass Skiline mit der Streckenführung in Zermatt massive Probleme hat und die Längenangaben dort generell nicht stimmen können, versteht sich von selbst, wenn man «den Mittelwert aus den möglichen Abfahrten bildet», wie man mir auf Anfrage mitteilt. 131 Pistenkilometer sind definitiv falsch. Während die Höhenmeter sehr genau passen, ist die Fahrstrecke 10% länger als gemessen. Die Auswertung von Tag 3 kommt zum selben Ergebnis. Mit 19.782 Höhenmetern schaffe ich es am Ende des Winters in die Top 25 von Zermatt und in meiner Altersklasse sogar auf Platz 4! Weil ich auf der allerletzten Liftfahrt auch bis zur Bergstation hätte sitzen bleiben können, schreibe ich mir virtuell 20138 Höhenmeter gut. Diesen Wert werde ich erst am 20. März 2021 übertreffen, dann aber um 6000 Höhenmeter und 20 Pistenkilometer, wobei mir die Einschränkungen aufgrund der Coronamaßnahmen sogar zugute kommen.