Flaine und das Grand Massif
Eine Nachlese unter dem Motto: «Unmöglich!»
Ich hatte mich auf Flaine gefreut, weil ich 20 Jahre nicht mehr dort war.
20 Jahre Zeitgeschichte der
Extraklasse: GPS-Empfänger zur Registrierung der gefahrenen
Strecke. Programmiersprachen, deren Bibliotheken es einem einfach
machen, Programme zu schreiben, die Pistenkilometer praktisch
fehlerfrei aus den Daten ermitteln können. OSM-Daten kostenlos als
Kartengrundlage. Dazu Lifte, die so schnell fahren, dass man sie nur
noch mit Disziplin auf dem Weg ins Tal überholt, und Webcams zur
ständigen Kontrolle der aktuellen Schneesituation. Dazu die
Einigung Europas bis hin zu einer Währungsunion, steigende
Energiepreise (in Flaine hatte ich letztmalig für umgerechnet 1
DM/l getankt), die Totalüberwachung durch die NSA und das Aufflammen
des islamischen Terrors. Eine andere Welt.
Dazu Seiten im Internet und Anzeigetafeln im Gebiet, die den Status der
Lifte so genau anzeigen, dass man kaum glauben kann, dass ein kurz zuvor
wegen stürmischer Winde geschlosssener Zubringer schon wieder geöffnet
ist, wenn man ihn erreicht. Zwei Wochen vor der Fahrt rief mich der Reiseleiter
an: «Kein Schnee!». Er fragte, ob man von dort noch andere Gebiete anfahren
könne. Mit einer Jugendgruppe? Ohne Bus? «Unmöglich!» war meine Antwort.
Und letztlich gab es dann ja noch Schnee; was ich vorher wusste, weil ich die
Wettervorhersage ständig «auf dem Schirm» hatte, wie man heute so schön sagt.
Und überhaupt das Internet. «Unmöglich, bereits 1995 dessen spätere Bedeutung
zu erkennen», sagen heute all jene, die wie Analysten an der Börse ohnehin immer
nachher sehr genau wissen, warum sich was wie entwickelt hat. So dicht dran und doch
so weit weg! WLAN in allen Zimmern mit hohem Datendurchsatz, eine Skype-Verbindung
nach Hause. Würde man nicht permanent auf der Piste sein, man könnte eine Geschichte
wie diese online schreiben. Man hätte dann zwar nichts zu berichten, aber einen Bericht
gäbe es immerhin schon mal.
Es gibt einiges in und an Flaine, was man als unmöglich kritisieren kann. Am Ende ist
es nicht der Baustil, über den man sich aufregt, sondern es sind «moderne» Erscheinungen.
Allen voran die Unsitte, tief unten im Tal einen Parcours für Auto fahren auf Eis anzulegen, auf
dem von morgens noch vor 8 Uhr und abends bis in die Dunkelheit ein
Lärmpegel herrscht, der an die Boxengasse am Nürburgring
erinnert. Die Fahrspur wird abends von einer Pistenraupe mit eben
solchem Lärm präpariert. Wer das nicht mag, wird sich definitiv gestört fühlen!
Flaine unterhält zudem ein eigenes Fernsehprogramm, das allerdings
einen jämmerlichen Eindruck macht. Es zeigt als einzige
Information an, ob die Schrägaufzüge zwischen Flaine Forum
und Flaine la Forêt geöffnet sind. Der Rest ist Werbung in
übelster Qualität. Auf Videos mit Klötzchengrafik kann
ich verzichten. Jedes Heimvideo hat eine bessere Auflösung und
mehr Bandbreite. Nichts
zum Status der Pisten oder Lifte. Fazit: «Voll
unmöglich!»
Flaine wird von Engländern und Holländern dominiert. Wer
französisch sprechen will, kommt hier nicht auf seine Kosten. Am
ersten Abend landen wir in einem Restaurant, in dem gar kein
Französisch gesprochen wird. Selbst die Rechnung kommt in
holländischer Sprache daher. Im nächsten Restau, dem Refuge des Skieurs, bekommen wir
die englische Speisekarte hingelegt. Ich lasse sie zurückgehen und
bestehe auf die Landessprache. Danach ist das Eis gebrochen. Wir reden
französisch, schauen alte Video-Clips auf riesigen Bildschirmen
und erfreuen uns am
guten Preis/Leistungsverhältnis der Speisen (und an den selbst aufgesetzen Schnäpsen).
Links: Engländer
haben im Ausland das Bedürfnis aufzufallen. Dazu greifen sie hin
und wieder auch zu Verkleidungen, also Helmen mit Kuheuterüberzug,
Löwenmähnen und anderen seltsamen Motiven. Auch wir fahren
Tigerhelme, aber wir achten darauf, dabei nicht auch noch unangenehm
durch schlechten Fahrstil aufzufallen. Die Löwengruppe, die ich in
Morillon Village treffe, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als
ein Haufen miserabeler Skifahrer. Vergleichbares hatte ich 2012 bereits
in Chamonix gesehen: Phantasy Kostüme und Pflugbogen im
Sulzschnee. Mein Kommentar: «Möglich, aber unvorteilhaft!»
Eine weitere Beobachtung scheint zu bestätigen, dass sich immer
mehr Trottel in schwere oder gesperrte Pisten trauen. Ich werde Zeuge,
wie in der Aigle Noir einer der jüngeren Leute «durch die
Buckel tanzt», aber liegend, Bauch und Rücken abwechselnd.
Auch in der Chamois sehen wir Leute, die sich sichtlich
überschätzt haben. Dabei heißt es doch, erst einmal
dort Sicherheit zu gewinnen, wo alles präpariert ist! Im
übrigen gilt, dass wir das schlechte mittlere Fahrvermögen
der Gäste durch die geschickte aber umsichtige Nutzung des äußeren Pistenrandes kompensieren.
Ein Appell der Bergbahnen an die Skifahrer: «Bleiben Sie auf den
geöffneten und präparierten Pisten!» Das sollte jedem
zu denken geben, der seine Skier nicht sicher im Griff hat.
Offensichtlich hat das Gelände hier oben die Besonderheit,
Gletscherspalten gleiche Felsformationen zu bilden, französisch
«Trous». Diese Löcher werden mit Stahlnetzen
überspannt und wir passieren auf der Diamant Noir dann auch genau solche Stellen. (Mindestens eine Spur ist von uns!)
Diese technischen Bilder zeigen die Gefahren, aber auch die
Herausforderungen, die Flaine bietet. In keinem anderen Skiurlaub habe
ich so oft abends den Belag repariert wie hier. Durch bis zum Stahl. An
der Kante. Auch die Reparatur stellt eine Herausforderung dar.
Andererseits hat man seitens der Bergbahnen die Absperrungen teilweise
so hoch angebracht, dass man auch mit Rucksack darunter
durchschlüpfen kann, wie an der Einfahrt zur Diamant Noir. Eine solche Abfahrt
ist, wenn man sie überlebt, ein großer Spaß. Aber sie
ist nichts für Anfänger, was man daran erkennen kann, dass
eine Einheit französischer Gebirgsjäger auch nicht schneller
ist als wir - nun ja, wenn ich nicht fotografieren würde. Und ich
muss fairer Weise gestehen, dass die Kerben im Belag von Steinen
stammen, die am späten Nachmittag auf den präparierten Pisten auftrauchen!
An jenem denkwürdigen Morgen des 7. Januar fahren mein Sohn und
ich getrennt. Ich steige in den Grands Vans. Neben mir ein Russe. Ich
habe keine Lust auf die Besetzer der Krim, die auch noch so aussehen
wie Panzergrenadiere. Er geht und ich bleibe stehen. Die Sperre
schließt sich wieder. Ich fahre mit dem nächsten Sessel. In
letzter Sekunden schiebt sich jemand durch die Sperre und fährt mit. Wieder so ein Panzergrenadier. Man muss ja nicht reden.
«Ob mir seine Landsleute auch so auch den Sack gehen
würden?» fragt er mich in gutem Englisch. Ich mache ihm
klar, dass ich als Deutscher kein Verständnis für die Haltung
Russlands habe. Ich verweise auf die Geschichte und darauf, dass ich es
gruselig (disgusting) finde, wenn ein (der Begriff
«lupenreiner» fällt mir nicht ein) Demokrat zum
Diktator mutiert. «Ja, Putin ist ein Diktator», sagt mein
Gesprächspartner. Ich traue meinen Ohren kaum. Bekommt man in
Russland tatsächlich eine Ausreisegenehmigung, wenn man so
über sein Staatsoberhaupt herzieht? «Die wissen das ja
nicht, aber wenn man auffällt, hat man Probleme.» Ich
erfahre im Laufe des Gesprächs, dass er sich für die
Opposition stark macht. Da unterscheidet er sich angenehm von den
Russen-Tussies, die schon peinlich provokant mit ihren Skianzügen
mit dem Schriftzug «Russia» auf dem Rücken posieren.
«Opposition in Russland ist gefährlich», betont er. Er
trägt eine deutlich sichtbare Narbe im Gesicht: «Die
russische Polizei! Demonstrieren ist gefährlich. Ich bin ihnen
entwischt.» Er fährt nach Flaine, weil da nur wenige
Landsleute Urlaub machen. Beim Ausstieg gratuliert er mir für die
Freiheit, die wir in Europa genießen. Ob er Russland schon nicht mehr zu Europa zählt?
Zu jener Zeit wissen wir noch nicht, was wenig später geschehen wird. Gegen 11:30 Uhr erfolgt der Anschlag islamistischer Extremisten auf die satirische Wochenzeitschrift Charlie Hebdo in Paris. In der Redaktion sterben 12 Menschen; insgesamt werden bei zwei Anschlägen 17 Menschen und drei Attentäter getötet. Freies Wort, was bist Du teuer!