Flaine und das Grand Mas­sif

Ei­ne Nach­le­se un­ter dem Mot­to: «Un­mög­lich!»

Flaine 2015Ich hat­te mich auf Flaine ge­freut, weil ich 20 Jah­re nicht mehr dort war. 20 Jah­re Zeit­ge­schich­te der Ex­tra­klas­se: GPS-Emp­fän­ger zur Re­gis­trie­rung der ge­fah­re­nen Stre­cke. Pro­gram­mier­spra­chen, de­ren Biblio­the­ken es ei­nem ein­fach ma­chen, Pro­gram­me zu schrei­ben, die Pis­ten­ki­lo­me­ter prak­tisch feh­ler­frei aus den Da­ten er­mit­teln kön­nen. OSM-Daten kos­ten­los als Kar­ten­grund­la­ge. Da­zu Lif­te, die so schnell fah­ren, dass man sie nur noch mit Dis­zi­plin auf dem Weg ins Tal über­holt, und Web­cams zur stän­di­gen Kon­trol­le der ak­tu­el­len Schnee­si­tua­ti­on. Da­zu die Ei­ni­gung Eu­ro­pas bis hin zu ei­ner Wäh­rungs­u­ni­on, stei­gen­de Ener­gie­prei­se (in Flaine hat­te ich letzt­ma­lig für um­ge­rech­net 1 DM/l ge­tankt), die To­tal­über­wa­chung durch die NSA und das Auf­flam­men des is­la­mi­schen Ter­rors. Ei­ne an­de­re Welt.
Flaine 2015*
Da­zu Sei­ten im In­ter­net und An­zei­ge­ta­feln im Ge­biet, die den Sta­tus der Lif­te so ge­nau an­zei­gen, dass man kaum glau­ben kann, dass ein kurz zu­vor we­gen stür­mi­scher Win­de ge­schloss­se­ner Zu­brin­ger schon wie­der ge­öff­net ist, wenn man ihn er­reicht. Zwei Wo­chen vor der Fahrt rief mich der Rei­se­lei­ter an: «Kein Schnee!». Er frag­te, ob man von dort noch an­de­re Ge­bie­te an­fah­ren kön­ne. Mit ei­ner Ju­gend­grup­pe? Oh­ne Bus? «Un­mög­lich!» war mei­ne Ant­wort. Und letzt­lich gab es dann ja noch Schnee; was ich vor­her wuss­te, weil ich die Wet­ter­vor­her­sa­ge stän­dig «auf dem Schirm» hat­te, wie man heu­te so schön sagt.
Flaine 2015*
Und über­haupt das In­ter­net. «Un­mög­lich, be­reits 1995 des­sen spä­te­re Be­deu­tung zu er­ken­nen», sa­gen heu­te all je­ne, die wie Ana­lys­ten an der Bör­se oh­ne­hin im­mer nach­her sehr ge­nau wis­sen, warum sich was wie ent­wi­ckelt hat. So dicht dran und doch so weit weg! WLAN in al­len Zim­mern mit ho­hem Da­ten­durch­satz, ei­ne Skype-Ver­bin­dung nach Hau­se. Wür­de man nicht per­ma­nent auf der Pis­te sein, man könn­te ei­ne Ge­schich­te wie die­se on­line schrei­ben. Man hät­te dann zwar nichts zu be­rich­ten, aber ei­nen Be­richt gä­be es im­mer­hin schon mal.
Flaine 2015*
Es gibt ei­ni­ges in und an Flaine, was man als un­mög­lich kri­ti­sie­ren kann. Am En­de ist es nicht der Bau­stil, über den man sich auf­regt, son­dern es sind «mo­der­ne» Er­schei­nun­gen. Al­len vor­an die Un­sit­te, tief un­ten im Tal ei­nen Par­cours für Au­to fah­ren auf Eis an­zu­le­gen, auf dem von mor­gens noch vor 8 Uhr und abends bis in die Dun­kel­heit ein Lärm­pe­gel herrscht, der an die Bo­xen­gas­se am Nür­burg­ring er­in­nert. Die Fahr­spur wird abends von ei­ner Pis­ten­rau­pe mit eben sol­chem Lärm prä­pa­riert. Wer das nicht mag, wird sich de­fi­ni­tiv ge­stört füh­len!
Flaine 2015*
Flaine un­ter­hält zu­dem ein ei­ge­nes Fern­seh­pro­gramm, das al­ler­dings ei­nen jäm­mer­li­chen Ein­druck macht. Es zeigt als ein­zi­ge In­for­ma­tion an, ob die Schräg­auf­zü­ge zwi­schen Flaine Forum und Flaine la Forêt ge­öff­net sind. Der Rest ist Wer­bung in übels­ter Qua­li­tät. Auf Vi­deos mit Klötz­chen­gra­fik kann ich ver­zich­ten. Je­des Heim­vi­deo hat ei­ne bes­se­re Auf­lö­sung und mehr Band­brei­te. Nichts zum Sta­tus der Pis­ten oder Lif­te. Fa­zit: «Voll un­mög­lich!»
Flaine 2015*
Flaine wird von Eng­län­dern und Hol­län­dern do­mi­niert. Wer fran­zö­sisch spre­chen will, kommt hier nicht auf sei­ne Kos­ten. Am ers­ten Abend lan­den wir in ei­nem Res­tau­rant, in dem gar kein Fran­zö­sisch ge­spro­chen wird. Selbst die Rech­nung kommt in hol­län­di­scher Spra­che da­her. Im nächs­ten Res­tau, dem Re­fu­ge des Skieurs, be­kom­men wir die eng­li­sche Spei­se­kar­te hin­ge­legt. Ich las­se sie zu­rück­ge­hen und be­ste­he auf die Lan­des­spra­che. Da­nach ist das Eis ge­bro­chen. Wir re­den fran­zö­sisch, schau­en al­te Vi­deo-Clips auf rie­si­gen Bild­schir­men und er­freu­en uns am gu­ten Preis/Leis­tungs­ver­hält­nis der Spei­sen (und an den selbst auf­ge­set­zen Schnäp­sen).
Flaine 2015*
Links: Eng­län­der ha­ben im Aus­land das Be­dürf­nis auf­zu­fal­len. Da­zu grei­fen sie hin und wie­der auch zu Ver­klei­dun­gen, al­so Hel­men mit Ku­heu­ter­über­zug, Lö­wen­mäh­nen und an­de­ren selt­sa­men Mo­ti­ven. Auch wir fah­ren Ti­ger­hel­me, aber wir ach­ten dar­auf, da­bei nicht auch noch un­an­ge­nehm durch schlech­ten Fahr­stil auf­zu­fal­len. Die Lö­wen­grup­pe, die ich in Mo­ril­lon Vil­la­ge tref­fe, ent­puppt sich bei nä­he­rem Hin­se­hen als ein Hau­fen mi­se­ra­be­ler Ski­fah­rer. Ver­gleich­ba­res hat­te ich 2012 be­reits in Cha­mo­nix ge­se­hen: Phan­ta­sy Ko­stü­me und Pflug­bo­gen im Sulz­schnee. Mein Kom­men­tar: «Mög­lich, aber un­vor­teil­haft!»
Flaine 2015 *
Ei­ne wei­te­re Beo­b­ach­tung scheint zu be­stä­ti­gen, dass sich im­mer mehr Trot­tel in schwe­re oder ge­sperr­te Pis­ten trau­en. Ich wer­de Zeu­ge, wie in der Ai­gle Noir ei­ner der jün­ge­ren Leu­te «durch die Bu­ckel tanzt», aber lie­gend, Bauch und Rücken ab­wech­selnd. Auch in der Cha­mois se­hen wir Leu­te, die sich sicht­lich über­schätzt ha­ben. Da­bei heißt es doch, erst ein­mal dort Si­cher­heit zu ge­win­nen, wo al­les prä­pa­riert ist! Im üb­ri­gen gilt, dass wir das schlech­te mitt­le­re Fahr­ver­mö­gen der Gäs­te durch die ge­schick­te aber um­sich­ti­ge Nut­zung des äu­ße­ren Pis­ten­ran­des kom­pen­sie­ren.
Flaine 2015*
Ein Ap­pell der Berg­bah­nen an die Ski­fah­rer: «Blei­ben Sie auf den ge­öff­ne­ten und prä­pa­rier­ten Pis­ten!» Das soll­te je­dem zu den­ken ge­ben, der sei­ne Skier nicht si­cher im Griff hat. Of­fen­sicht­lich hat das Ge­län­de hier oben die Be­son­der­heit, Glet­scher­spal­ten glei­che Fels­for­ma­tio­nen zu bil­den, fran­zö­sisch «Trous». Die­se Lö­cher wer­den mit Stahl­net­zen über­spannt und wir pas­sie­ren auf der Dia­mant Noir dann auch ge­nau sol­che Stel­len. (Min­des­tens ei­ne Spur ist von uns!)
Flaine 2015*
Die­se tech­ni­schen Bil­der zei­gen die Ge­fah­ren, aber auch die Her­aus­for­de­run­gen, die Flaine bie­tet. In kei­nem an­de­ren Ski­ur­laub ha­be ich so oft abends den Be­lag re­pa­riert wie hier. Durch bis zum Stahl. An der Kan­te. Auch die Re­pa­ra­tur stellt ei­ne Her­aus­for­de­rung dar. An­de­rer­seits hat man sei­tens der Berg­bah­nen die Ab­sper­run­gen teil­wei­se so hoch an­ge­bracht, dass man auch mit Ruck­sack  dar­un­ter durch­schlüp­fen kann, wie an der Ein­fahrt zur Dia­mant Noir. Ei­ne sol­che Ab­fahrt ist, wenn man sie über­lebt, ein gro­ßer Spaß. Aber sie ist nichts für An­fän­ger, was man dar­an er­ken­nen kann, dass ei­ne Ein­heit fran­zö­si­scher Ge­birgs­jä­ger auch nicht schnel­ler ist als wir - nun ja, wenn ich nicht fo­to­gra­fie­ren wür­de. Und ich muss fai­rer Wei­se ge­ste­hen, dass die Ker­ben im Be­lag von Stei­nen stam­men, die am spä­ten Nach­mit­tag auf den prä­pa­rier­ten Pis­ten auf­trau­chen!
Flaine 2015*
An je­nem denk­wür­di­gen Mor­gen des 7. Ja­nu­ar fah­ren mein Sohn und ich ge­trennt. Ich stei­ge in den Grands Vans. Ne­ben mir ein Rus­se. Ich ha­be kei­ne Lust auf die Be­set­zer der Krim, die auch noch so aus­se­hen wie Pan­zer­gre­na­die­re. Er geht und ich blei­be ste­hen. Die Sper­re schließt sich wie­der. Ich fah­re mit dem nächs­ten Ses­sel. In letz­ter Se­kun­den schiebt sich je­mand durch die Sper­re und fährt mit. Wie­der so ein Pan­zer­gre­na­dier. Man muss ja nicht re­den.
Flaine 2015*
«Ob mir sei­ne Lands­leu­te auch so auch den Sack ge­hen wür­den?» fragt er mich in gu­tem Eng­lisch. Ich ma­che ihm klar, dass ich als Deut­scher kein Ver­ständ­nis für die Hal­tung Russ­lands ha­be. Ich ver­wei­se auf die Ge­schich­te und dar­auf, dass ich es gru­se­lig (dis­gus­ting) fin­de, wenn ein (der Be­griff «lu­pen­rei­ner» fällt mir nicht ein) De­mo­krat zum Dik­ta­tor mu­tiert. «Ja, Pu­tin ist ein Dik­ta­tor», sagt mein Ge­sprächs­part­ner. Ich traue mei­nen Ohren kaum. Be­kommt man in Russ­land tat­säch­lich ei­ne Aus­rei­se­ge­neh­mi­gung, wenn man so über sein Staats­ober­haupt her­zieht? «Die wis­sen das ja nicht, aber wenn man auf­fällt, hat man Pro­ble­me.» Ich er­fah­re im Lau­fe des Ge­sprächs, dass er sich für die Op­po­si­ti­on stark macht. Da un­ter­schei­det er sich an­ge­nehm von den Rus­sen-Tus­sies, die schon pein­lich pro­vo­kant mit ih­ren Ski­an­zü­gen mit dem Schrift­zug «Rus­sia» auf dem Rücken po­sie­ren. «Op­po­si­ti­on in Russ­land ist ge­fähr­lich», be­tont er. Er trägt ei­ne deut­lich sicht­ba­re Nar­be im Ge­sicht: «Die rus­si­sche Po­li­zei! De­mons­trie­ren ist ge­fähr­lich. Ich bin ih­nen ent­wischt.» Er fährt nach Flaine, weil da nur we­ni­ge Lands­leu­te Ur­laub ma­chen. Beim Aus­stieg gra­tu­liert er mir für die Frei­heit, die wir in Eu­ro­pa ge­nie­ßen. Ob er Russ­land schon nicht mehr zu Eu­ro­pa zählt?
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Zu je­ner Zeit wis­sen wir noch nicht, was we­nig spä­ter ge­sche­hen wird. Ge­gen 11:30 Uhr er­folgt der An­schlag is­la­mis­ti­scher Ex­tre­mis­ten auf die sa­ti­ri­sche Wo­chen­zeit­schrift Char­lie Heb­do in Pa­ris. In der Re­dak­ti­on ster­ben 12 Men­schen; ins­ge­samt wer­den bei zwei An­schlä­gen 17 Men­schen und drei At­ten­tä­ter ge­tö­tet. Frei­es Wort, was bist Du teu­er!