Frankreich
Finale der Tour de France 2005
Wir verfolgen die Geschicke von Jan Ullrich seit 1996, als er mit seinem furiosen Fahrstil Freund (Bjarne Riis) und Feind (Miquel Indurain) in Grund und Boden fuhr. Nur die Stallraison konnte ihn davon abhalten, seinen Kapitän zu überholen.
Seither ist viel Seltsames passiert - aber ungebrochen ist der Charme eines Radfahrers, der als einziger Deutscher in über 100 Jahren die Tour de France gewonnen und alle anderen Fahrer vor ihm in den Schatten gestellt hat und der, wie nur Boris Becker zuvor, eine ganze Sportart aus dem Dornröschenschlaf erweckt hat. Anders als Armstrong ist er ein Garant für eine spannende Tour.
Einmal wollten wir ihn sehen, und zwar dort, wo er sieben Mal an einem vorbei fährt. Ansonsten gilt: Wer etwas von der Siegerehrung sehen will, der bleibt zu Hause und schaut TV. Denn die Organisation ist für Anwesende ohne VIP-Karte eine Katastrophe.Bekanntlich stehen beim Start der Tour de France etwa 4000 motorisierte Fahrzeuge 189 Fahrrädern gegenüber. Diese Karawane zieht von Ort zu Ort und hinterlässt dabei jede Menge Müll. Die Artisten auf Motorrädern und das Maskottchen sind dabei wohl das kleinere Übel. Den größten Anteil an Autos stellt die Werbekampagne, die dem Rennen etwa zwei Stunden vorausfährt. Die Veranstaltung hat Volksfestcharakter.
Jahr für Jahr treffen sich die besten Radfahrer der Erde zu diesem Radrennen, das alle anderen Rundfahrten in den Schatten stellt. Es sind die Sieger des Giro d'Italia, der Tour de Suisse oder auch namhafter Frühjahrsklassiker, die hier den Wasserträger für einen Kapitän machen, der alle anderen Ambitionen dem Ziel unterordnet, die Tour zu gewinnen.
Schwere Stürze, unberechenbares Wetter und eine Streckenführung, die eher dem Auto denn dem Fahrrad dienlich ist, kennzeichnen dieses harte Straßenrennen, das einen treuen Fankreis sein eigen nennt. Dopingskandale und Dauersieger können die Faszination nicht mindern und auch die Tatsache, dass die Protagonisten der Tour de France nur wenige Sekunden an der Stelle vorbei donnern, an der man steht, schmälert in keiner Weise die Zahl der Zuschauer.
Nachdem ich im Laufe von 20 Jahren praktisch alle bekannten Pässe der Tour selbst einmal gefahren bin, wenn auch langsam und mit Gepäck, kann ich mir ein Bild davon machen, was die Jungs auf den Rädern leisten, wenn es über die Berge geht, wie auch von dem Missgeschick des Dänen Rasmussen, der sich in den Bergen vor Ullrich platzieren konnte, und der beim Einzelzeitfahren bei Saint Etienne vom dritten auf den siebten Platz abstürzte.
Ähnlich spektakulär wie der Sieg vom Grec Lemond über den in Frankreich nicht übermäßig beliebten Landsmann Laurent Fignon, 1989, präsentiert sich in diesem Jahr der Streich von Alexander Vinokurov, der zu Beginn des Finales mit zwei Sekunden Rückstand auf Levi Leipheimer vom Team Gerolsteiner auf Platz 6 liegt und der bei einem Zwischensprint 4 Sekunden Zeitgutschrift ergattert. Aber auch Leipheimer hat aufgepasst - und holt sich zwei Sekunden bei diesem Sprint, was ihm nach Zehntelsekunden ausreicht, den fünften Platz zu behaupten. So bleibt Vinokuorov nur noch die Zeitgutschrift der ersten drei Plätze dieser letzten Etappe, eine Chance, die er eindrucksvoll wahrnimmt. Wenig später gewinnt er in Paris und beschert dem Team Telekom Bonn damit den dritten Etappensieg dieser Tour de France.